Gibt es einen runden Geburtstag eines Rockstars, der je so andächtig gefeiert worden ist wie jetzt der 75er David Bowies? Sicher, es rauschte auch ordentlich, als Mick Jagger vor dreieinhalb Jahren das Dreiviertel voll machte. Aber das geschah eher in anekdotischer Form im Sinne von Kinder-wie-die-Zeit-vergeht-Geseufze und Bilder-aus-dem-Familienalbum-Gemütlichkeit (damals, 1963 etc.). Bowie versucht man philosophisch, analytisch, sprich: tiefsinnig gerecht zu werden. Das ist natürlich erst recht auweia. Werk und Wesen eines Künstlers zu erfassen, ist ein Unterfangen, das heutige Content-Lieferanten heillos überfordert. Macht lieber was über smarte Tiefkühlfächer oder phosphoriszierende Instant-Pizza, Mädels und Jungs!
Mir hat die Gnade der frühen Geburt ermöglicht, David Bowies Aufstieg zum Superstar gewissermaßen in Echtzeit mitzuverfolgen (er hatte vorher einen Hit mit dem Raumfahrer-Drama „Space Oddity“ gelandet, aber die nächsten Jahre kommerziell nicht an diesen Erfolg anknüpfen können). Irgendwann um 1972 tauchten zuerst in Bravo und dann auch in richtigen Musikzeitschriften die Bilder einer seltsamen Figur mit stacheligen roten Haaren im futuristischen Jumpsuit auf. Als ich „Starman“ hörte, war ich dieser Figur verfallen. Auch der Outfit störte mich nicht, im Gegenteil, ich fand den Typen sogar recht gut aussehend. Wie sich Bowie bald darauf mit Frauenkleidern, meterdicken Schichten von Makeup und lackierten Fingernägeln präsentierte, stellte zwar auch mein Fassungsvermögen - ich war um die 14 - auf eine gewisse Probe. Aber da waren immer noch Stücke wie „Time“, „Drive-In Saturday“ oder „Hang On To Yourself“, die alle Zweifel ausräumten.
An meiner Schule in der Steiermark gab es indes maximal drei von hundert, die Bowie mochten. Ich rede von männlichen Mitschülern - die Mädels schienen durch die Bank überhaupt keine Meinung zu Rockmusik zu haben. Die Jungs aber, die hassten Bowie, schimpften ihn „schwule Sau“ und solche Sachen. Das Argument mit der Musik verhallte ungehört, denn diese Typen hatten ja noch nie einen Ton von Bowie gehört. Tatsächlich wurde er damals - das traf sogar auf Spezialsendungen wie die „Musicbox“ zu – äußerst selten im Radio gespielt. Außer allenfalls bei Pete Doherty hat bei keinem Pop-Star je derartig krasses Missverhältnis zwischen Publizität und der Bekanntheit seiner Musik geherrscht wie beim David Bowie der Jahre 1972 und 1973.
Interessant ist, dass der beschriebene Hass nicht annähernd so stark die anderen Figuren im Pop erfasste, die sich in der Folge noch extremer geschminkt der Öffentlichkeit präsentierten (der frühe Peter Gabriel) und sich ebenso femininer und/oder schwuler Images bedienten (New York Dolls, der frühe Freddy Mercury z.B.), bei Bowie aber anhielt, als dieser seine ganze androgyne Aufmachung längst eingemottet hatte und ganz andere Ziele verfolgte, als Spießbürger mit gesundem Volksempfinden vor den Kopf zu stoßen.
Die erste leise Enttäuschung bescherte mir Bowie mit „Pin-ups“, einem frühen Prototypen jener Alben, auf denen Künstler ihre Favoriten nachspielten. Es ging da gar nicht so sehr darum, ob Bowie Songs von Pink Floyd, den Who, Kinks, Pretty Things oder Easybeats schlechter oder besser gegeben hat als es die Originalinterpreten getan haben. Was es ausmachte, war vielmehr eine Art verspäteter Stimmbruch (der sich allerdings schon auf dem Vorgänger-Album „Alladin Sane“ angekündigt hatte). Ich hatte an Bowie besonders diese hohe, in der Emotion bisweilen überschnappende Stimme geliebt, die zum Beispiel „Saviour Machine“, natürlich „Rock´n´Roll Suicide“ und ganz besonders seinen frühen Über-Song „The Cygnet Committee“ so besonders gemacht hatte. Das jetzt war ein tiefer gestimmter Bowie - ich wusste damals schon, dass die Ära des frühen David Bowie, des Glam-Rock-Stars Bowie (der eine noch ziemlich stark von Musical- und Vaudeville-Einflüssen geprägten Frühest-Phase bis 1969 vorausgegangen war), zu Ende war.
Mit dem unabänderlichen Lauf der Dinge rasch ins Reine gekommen, verfolgte ich Bowies weitere Inkarnationen und künstlerische Schritte immer noch mit Anteilnahme, denn egal ob er sich an einer Art Rock´n´Roll-Futurismus („Diamond Dogs“) oder einer eigentümlich kühlen White Soul/Disco-Variante („Young Americans“) versuchte - es klang immer noch interessanter als der brav-biedere Rock, der in den mittleren 70er Jahren selbst in den etwas spezielleren Radiostationen den Ton angab, all die Bad Companys, Bachmann Turner Overdrives & Co.
Jetzt allerdings kommen wir aber an einen Punkt, wo´s nachgerade ketzerisch wird: Was vielen als der künstlerische Höhepunkte in Bowies Schaffen gilt, nämlich seine aus den Alben „Low“, Heroes“ und „Lodger“ bestehende und zwischen 1976 und 1979 entstandene „Berlin-Trilogie“, hat mich immer eigentümlich kalt gelassen. Sie tut es auf gewisse Weise heute noch. Wohl erkenne ich das Große, auch potentiell Kühne dieser Platten, die herkömmliche Pop-Dramaturgien ignorieren (Gesangsstücke sind oft recht kurz und fragmentarisch betextet) und Brücken von Rock zu Elektronik, teilweise sogar über die unmittelbaren Grenzen von Populärmusik hinaus, schlagen. Wirklich packen aber tun mich vielmehr die zwei LPs, die diese Trilogie rahmen, nämlich „Station To Station am vorderen, und „Scary Monsters“ am hinteren Ende, die die Verschmelzung unterschiedlicher Idiome über einen stilsicheren Eklektizismus suchen, aber dem Rock näher sind.
Bowies Hit-Phase in den 80ern hat mich genauso enttäuscht und null interessiert wie alle anderen echten Fans und ließ mich vorübergehend auf Distanz gehen. Mitte der 90er holte ich Bowie aus dem Museum, dem ich ihn schon überantwortet hatte (bis 1980 und nicht weiter). Immerhin brachte er nun wieder substanzielle Platten heraus, die mancherlei Hinsicht bewusst an die Berlin-Trilogie anknüpften („Outside“) oder versuchten, sich einen Reim auf aktuelle Strömungen wie Jungle und Drum & Bass zu machen („Earthling“). Um jeden Preis versuchte er damals, seine künstlerische Integrität zurückzugewinnen und seinen Ruf als Transmitter des Pop zum Vorhof der Avantgarde wiederherzustellen. Auch Auftritte in ungewohntem Rahmen waren ein Weg dazu, und so spielte er 1997 sogar ein Open-air in der Arena. Bowie begann das Konzert (pünktlich, bei gleißendem Sonnenlicht) unglaublich lässig allein an der akustischen Gitarre (mit „Quicksand“ von „Hunky Dory“). Noch den dritten Song „The Jean Genie“ begann er solo, mittendrin kam die Band mit der auffälligen, haarlosen Bassistin Gail Ann Dorsey dazu und vollendete. Abgesehen von ein paar Hits wie „Under Pressure“ stand der Spät-Nachmittag ganz im Zeichen des „Experiments“ - sogar das Saxophon, das Bowie nach eigener Aussage „sündhaft schlecht“ bediente, musst dafür herhalten. Wow, an so einem Platz habe er noch nie gespielt, sagte er einmal.
Bowie hat nachher keine schlechte LP mehr gemacht. Begeistert hat auch kaum eine; am ehesten kam m.E. noch „Heathen“ von 2002, das sich wieder einmal eines ausgeprägten Eklektizismus befleißigte, dem nahe. Bis dann sein ganz spätes Alterwerk erschien: Mit „The Next Day“ und „Blackstar“ legte er Zeugnis ab, wie sich die darin thematisierte Hinfälligkeit in großer Musik manifestieren kann. Wohl der primäre Grund für die Ehrfurcht und Hingabe, die dem Andenken David Bowies rund um seinen 75. Geburtstag (8.1.) und seinen 6. Todestag (10.1.) geleistet wird.
Die Geschichte des Künstlers David Bowie, dessen halsbrecherisches Produktionstempo bereits zur Folklore der Rock-Geschichte gehört, endet begreiflicherweise nicht mit dem Ende seines 69 Jahre langen Lebens. Bei Warner Music, das fast alle Rechte an Bowies Back-Katalog hat, ist dieser Tage Bowies „verschwundener“ Longplayer „Toy“ erscheinen. Ursprünglich zur Veröffentlichung im März 2001 gedacht, enthält es neben wenigen neuen Songs vor allem neu und fast ohne Overdubs von Bowies damaliger Tour-Band eingespielte Versionen ganz alter Songs, die bis Mitte, in Einzelfällen sogar in die erste Hälfte der 60er Jahre zurückreichen: „Can´t Help Thinking About Me“ etwa, „The London Boys“ oder Bowies allererste Single „Liza Jane“, die er 1964 noch als Davie Jones (sein bürgerlicher Name) veröffentlicht hatte. „Conversation Piece“, ein besonders eindrucksvoller, trauriger Song über die Freundschaft eines einsamen Schriftstellers mit einem österreichischen Ladenbesitzer, der sich selbstironisch über sein lausiges Englisch lustig macht, war für eine Veröffentlichung auf Bowies zweitem, gemeinhin als „Space Oddity“ bekanntem Album von 1969 gedacht gewesen, aber dem Rotstift zum Opfer gefallen. Mit etwas krimineller Energie war es allerdings zu den großen Zeiten der File-Sharing-Portale leicht auszuheben gewesen.
Bowie hatte „Toy“ als Überraschungsalbum gedacht. Aber seine damalige Plattenfirma EMI kämpfte mit finanziellen Schwierigkeiten und verschob die Veröffentlichung ein ums andere Mal. Schließlich gestand die Geschäftsführung ein, dass sie mit der Platte nicht glücklich war, weil sie ihre Marktchancen als gering einstufte, und legte sie auf Eis. Das war der Punkt, wo Bowie zu Warner wechselte.
2011 leakte das Ding im Netz, inklusive zwei Songs, die Bowie mittlerweile auf „Heathen“ verbraten hatte. Die sind auf der jetzt erschienenen offiziellen Version natürlich nicht drauf (schließlich will Warner nicht seine eigenen Veröffentlichungen torpedieren). Dafür gibt es „Toy“ auch als aufwändige 3-CD-Box mit zusätzlichen Tracks und einer CD mit recht schönen, semiakustischen und weitgehend schlagzeuglosen Alternativ-Versionen der regulären Songs.
Wem das noch zu wenig ist: Noch vor Weihnachten ist eine schlanke 11-CD/18 LP-Kompilation erschienen, die je nach Zusatzmaterial (Bücher, Fotos, etc.) um 100 bis 400 Euro wohlfeil zu erwerben ist und den Titel „Brilliant Adventure" trägt. Es ist hier das Repertoire aller LPs enthalten, die Bowie von 1992 bis 2001 aufgenommen hat, also auch von „Toy“. Bemerkenswert sind aber insbesondere lange, jazzige, meist Piano- und Saxophon-getriebene Instrumentalflächen, die einen für gut zehn Minuten oder mehr vergessen lassen können, dass man es eigentlich mit einem Rock-Superstar zu tun hat. Und ein Live-Mitschnitt, der zeigt, wie verblüffend gut und druckvoll selbst vermeintliche Nieten und Säuselsongs wie „Absolute Beginners“ oder „This Is Not America“ klingen konnten.
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