Aber ernsthaft: Nachdem der Kanzler jahrelang lautstark routenschließend durchs Land zog, scheint er nun, wo sein großer Moment endlich da ist, zurückhaltender. Nicht ganz ohne Grund. Denn die „hässlichen Bilder“ könnten ihn jetzt einholen. Jede Menge Kameras sind hinter dem Zaun zu Griechenland aufgebaut. Und dokumentieren bereits jetzt Gewalt, Versenkungsversuche und Schlägereien, die die Flüchtlinge durch die Vertreter des „zivilisierten“ Westens über sich ergehen lassen müssen. Zum Glück der ratlosen Staatschefs sind sie nicht immer dabei. So dürfte bereits ein syrischer Flüchtling von den Gummigeschossen der griechischen Grenzer getötet worden sein.
Was passiert aber, wenn die Menge wächst und die türkische Polizei tatsächlich nachrückt? Es für die Flüchtlinge kein vor und kein zurück mehr gibt? Die dann vor die Wahl gestellt werden, entweder zu erfrieren, zu verhungern oder in eine Richtung durchzubrechen? Werden dann auch die österreichischen Polizisten, die unsere Regierung so hilfsbereit an die griechische Grenze schicken will, auf sie schießen?
Diese Situation der Ratlosigkeit, der Preisgabe jeglicher Werte, für die die EU oder Österreich angeblich steht, war eine mit Anlauf. Unser Bundeskanzler, der schon 2015 überrascht war, dass plötzlich Flüchtlinge vor der Grenze stehen statt still und leise in den Lagern zu verhungern, die aufgrund der drastischen Kürzung der Flüchtlingshilfe die Versorgung nicht mehr gewährleisten konnten, ließ damals ein altes Schlagwort wiederaufleben, dass den harten Ausländer raus-Kurs etwas abmildern sollte: Hilfe vor Ort. Nun, wie sah die aus? Indem man sich an den Zahlungen für die Türkei beteiligte, damit die Flüchtlinge dort bleiben. Dann folgte, was immer in solchen Situationen folgt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Und man hat nichts gelernt. Denn auch in diesem Jahr unterstützte Österreich das UNHCR mit bisher 23.110 US Dollar. Also praktisch gar nicht.
Hilfe vor Ort wäre auch etwas mehr als nur Geld. Es wäre das Bemühen, Frieden zu schaffen. Die Staaten und Organisationen, die irgendwelche Halsabschneider die Gegend terrorisieren lassen, sie mit Waffen und Geld versorgen, um dann mit ihnen beste Geschäfte zu machen, zu benennen. Sich für Fairtrade einzusetzen. Dafür zu sorgen, dass die Staaten nicht im Namen des Welthandels ausgeplündert werden und Krüppel und No-Future-Generationen hinterlassen. Kurz: Dafür, dass die Weltwirtschaft gerechter wird.
Da das aber ein schwieriges Unterfangen wird, was ich unumwunden zugebe, wird es gleich gelassen. Stattdessen bringt man sich nun in eine Situation, die den Werteverfall des Westens so richtig in die Auslage stellt. Da mag der Bundeskanzler noch so zetern, dass man der Erpressung der Türkei nicht nachgeben werde. Er wird nicht gefragt. Er hat nichts zu sagen. Und der Erpressung wurde bereits nachgegeben. Am schnellsten war natürlich Donald Trump, der gleichmal die Lieferung von Patriot Abwehrraketen und den Waffennachschub an die Türken checkte. Unmittelbar darauf betonte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Solidarität des Verteidigungsbündnisses mit der Türkei. Und forderte beide Seiten auf, Luftangriffe in Idlib zu unterlassen. Und warnte Syrien, die Türkei (in Syrien) anzugreifen. Es wird daher auch nicht mehr lange dauern, bis die Mittel für die Türkei, um die Flüchtlinge weiterhin zu versorgen, bewilligt werden. Wobei der letzte Punkt jener ist, der am logischsten scheint. Immerhin hat das Land rund 3,5 Mio. Flüchtlinge zu versorgen. Die sollen auch gut und sicher untergebracht werden. Wünscht sich der Österreicher, wenn sie nicht gerade neben ihm einquartiert werden.
Aber: 22 der 27 EU-Mitgliedsstaaten sind NATO-Staaten. Und drohen so, die EU in einen widerlichen Konflikt hineinzuziehen. Nachdem man bereits die Kurden verraten hat, nun für islamistische Terroristen in den Krieg zu ziehen. Die Türkei und ihre Verbündeten mit Waffen zu beliefern. Und sich dabei Russland zum Feind zu machen. Apropos Russland: Der jetzigen Logik folgend müsste man sofort die Sanktionen beenden. Und dem Land neben der Krim auch noch den Ostteil der Ukraine überlassen. Das wäre wahrscheinlich sogar nachvollziehbarer, als der Türkei jetzt einfach einen Teil von Syrien zuzugestehen.
Die bisherige Haltung löst jedenfalls keines der Szenarien. Die höchstwahrscheinlich bald wiedergewonnene Zeit sollte man dann endlich nutzen, um die Situation vor Ort zu analysieren und die Fehler der Vergangenheit so gut es geht zu reparieren.
Danke. Sie brauchen mir nicht sagen, dass ich naiv bin. Ich weiß, bevor das passiert, erlebe ich es, dass Europa in den Krieg zieht. Gegen Flüchtlinge.