Früher einmal, es muss vor meiner Zeit gewesen sein, soll die Regel gegolten haben, einem Politiker*, der neu in ein gewichtiges Amt gekommen ist, eine Gewöhnungs- und Bewährungsfrist von 100 Tagen einzuräumen. Aus der Politik ist diese Usance allem Anschein nach spurlos verschwunden - wir allerdings haben sie in einer emotional diskutierten Causa zur Prämisse genommen: Bevor wir ein Wort über das offizielle Nachfolgeprojekt der von der türkis-grünen „Medienpolitik" totgeschlagenen „Wiener Zeitung" verlieren, wollten wir besagte 100 Tage abwarten, lesen, hören, sehen, reflektieren. Nicht vorschnell, gar reflexhaft aburteilen, wie das zweifellos hin und wieder passiert ist - ganz bestimmt aber auch nicht Marketing-Propaganda aus der von einem kadavergehorsamen ÖVP-Parteisoldaten befehligten Geschäftsführung reproduzieren.
Die nämlich war von erlesener Blödheit.
Der sogenannte Kritikerpapst Marcel Reich-Ranciki hat einmal gesagt, es gäbe Städte, vor denen er Autoren warnen müsste - New York etwa. Es gibt auch Schlagworte, vor denen (heute, 2023) man PR- und Marketing-„Strategen" warnen müsste: „Digitale Transformation", „multimedialer Auftritt", „innovative Konzepte" etc. Solche Platitüden gebären Monster an Geschmacklosigkeiten. Wie diese Kampagne.
Der Beistrichfehler kombiniert mit hoppertatschiger Grammatik – geschenkt. Lesen Sie einfach nur diese zwei Sätze laut: „Statt langweiligen Schlagzeilen, spannende Geschichten, die dich berühren, informieren und zum Nachdenken anregen. Schnapp dir dein Smartphone und tauche ein in eine Welt voller Inspiration und Diskussionen."
Zurücklehnen und genießen. „Spannende Geschichten, „die dich berühren, informieren und zum Nachdenken anregen". Das unabdingbare Smartphone. „Eine Welt voller Inspiration und Diskussionen." Man könnte auch das auch so benennen: Mit leerem Gewäsch sich gerieren, als hätte man eben das Rad neu erfunden.
Gewiss, die Totengräberin der „Wiener Zeitung" spielt da gerne mit.
Der Bringer: Gute, alte Textstories
Wie stellt sich das Produkt tatsächlich dar? Wie sich jetzt, nach knapp drei Monaten, zeigt, sind es gute alte Textstories von epischer Länge, die der WZ, wie sich das Medium jetzt nennt, Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffen. „Langweilige Schlagzeilen" gibt´s übrigens auch immer noch. Ohne die kommt - heißes Branchengeheimnis! - nämlich keine Textgeschichte aus.
In ziemlich spektakulären und allem Anschein nach wasserdichten Aufdeckergeschichten haben die vordem eigentlich investigativ nicht besonders verhaltensauffälligen Redakteure Michael Ortner und Matthias Winterer rote Bezirkskaiser und türkise Gemeindefürsten aufgeblattelt. Freilich gab´s Stories dieser Art auch schon früher - damals halt eingebettet in eine Vielzahl von Geschichten, Reportagen, Features und Analysen aus einem breiten, über gut 30 Druckseiten laufenden, durch die einzelnen Ressorts thematisch abgesteckten Themenkreis.
Nach welchen Kriterien nun in der „neuen" WZ eine wesentlich geringere Anzahl an Geschichten aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Umwelt, Gesundheit und Wissenschaft gespielt wird, ist nicht wirklich schlüssig einsichtig. Ebensowenig, wie diese Texte, die sich doch deutlich an eine ältere Zielgruppe richten, mit den betont „jungen" anderen Elementen des Mediums zusammenpassen: Die Video-Filme über Themen wie Sneakers, die Teuerung oder die Hitze der Stadt. Dem Social Media-Auftritt, der bewusst auf die „alten" Plattformen Facebook und X/Twitter verzichtet und ganz auf Instagram und TikTok setzt, wo, nicht unclever, Themen zu Appetithäppchen komprimiert werden.
All das ist, wo notwendig auch sorgfältig recherchiert, durchaus gut gemacht. Ob man die Präsentation der Videogeschichten goutiert, mag eine Altersfrage sein. Die stellt sich dann allerdings auch andersrum bei den Podcasts. Denn dass sich die inbrünstig fetischierte junge Zielgruppe mit den Insights des fraglos phänomenal fachkundigen Opern- und Theaterexperten Edwin Baumgartner oder Themen wie Waffenlieferungen an die Ukraine anfreunden kann, darf dezent in Zweifel gezogen werden.
Wirklich in sich stimmig ist der Auftritt der „neuen" WZ also nicht. Weil aber Budget und Kompetenz dahintersteht, ist sie - subjektive Einschätzung - ein summa summarum doch recht brauchbares Online-Medium. Es ist ja nicht so, dass wir davon allzu viele im Lande haben.
Was bleibt sonst noch festzuhalten?
Ein unfreundlicher Akt gegenüber den früheren Redakteur*innen/Mitarbeiter*innen, deren Geschichten aus der „Wiener Zeitung" nur mehr über digitale Extrem-Expeditionen (tagblatt-wienerzeitung.at/ eingeben und dann über Thema, notfalls auch Autor und ggf. zeitliche Eingrenzung in der Suchfunktion fortfahren) gefunden und aufgerufen werden können.
Gebrochene Versprechen: a) dass kein Redaktionsmitglied ohne Angebot zur Weiterarbeit im Unternehmen gekündigt werde. Von ursprünglich etwa 60 Redakteuren* wurden gerade mal an die 15 in das Nachfolgeprodukt mitgenommen, die anderen dürfen ohne irgendein Angebot einer Alternative selbst schauen wo sie sie bleiben. b) dass die Marke erhalten bleibt: Mit der klassischen „Wiener Zeitung" hat die WZ nur mehr die „mitgenommenen" annähernd 15 Redakteure* und mit ihnen deren fachliches Know-how und stilistische Handschrift gemein. Im Gesamten macht das, grob der von der WZ selbst erstellten Gliederung Lesen-Hören-Sehen-Social Media folgend, vielleicht ein Viertel - substanziell dank der Aufdecker-Stories vermutlich etwas mehr - vom Gesamt-Auftritt aus. Wie auch immer - viel „Wiener Zeitung" steckt nicht mehr in der WZ, auch nicht im Namen. Abkürzungen sind immer eine Art Mogelpackung - ob nun ELO für Electric Light Orchestra oder eben WZ für „Wiener Zeitung".
Ein gedrucktes Kulturmagazin
Irgendwann ziemlich früh im Sommer haben in Sozialen Netzwerken Gerüchte die Runde gemacht, ein Trupp früherer „Wiener Zeitung"s-Redakteure* würde ein gemeinsames Projekt basteln. Schon Ende August bestätigte sich das Gerücht in Form einer gedruckten Nullnummer: „Das Feuilleton" (F.) heißt es und besteht im Kern aus Stützen der seinerzeitigen „Wiener Zeitung"-Feuilletons: Christina Böck, die das Ressort geleitet hat, ihr Stellvertreter Bernhard Baumgartner und der phänomenale Film-Experte Matthias Greuling. Diese Drei sind auch die Herausgeber; Böck ist Chefredakteurin. Beigetragen haben zur Nullnummer weiters die frühere Stv. Chefredakteurin Judith Belfkih, Clemens Marschall, der beliebte Kolumnist Severin Groebner und Walter Gröbchen mit einem Beitrag aus seiner Reihe „Maschinenraum".
Das wurde zunächst streng geheim gehalten, dann lieferten in SM-Postings kryptische Satzzeichen auf rotem Untergrund bereits deutliche Signale, dass was im Busch war, und vor kurzem ist das Kind tatsächlich geschlüpft. Mit viel Beifall und Glückwünschen aus der medienaffinen Öffentlichkeit und flammenden Postings der Macher, denen der frenetische Wille anzumerken ist, es mit diesem Projekt auch definitiv zu schaffen. Die Chancen stehen vorderhand einmal recht gut.
„Das Feuilleton" ist ein 24-Seiten starkes Print-Magazin. Die Nullnummer bietet u.a eine Kulturgeschichte der Farbe Pink mit teilweise überraschenden Details von Christina Böck, einen Kommentar von Judith Belkih über das problematische Wechselspiel zwischen Kunst und Politik und dessen Reflexion in der Öffentlichkeit, Groebners Kolumne über Bargeld und das Schweigen der Mehrheit, eine Geschichte Böcks über Comebacks, Interviews Greulings mit Meg Ryan, der karrieristisch etwas abgesackten einstigen „Königin der romantischen Komödien", und mit Margarethe von Trotta über deren filmische Annäherung an Ingeborg Bachmann; weiters ein Lokalaugenschein Baumgartners im englischen Dartmoor, dem Schauplatz des „Sherlock Holmes"-Krimis „The Hound of the Baskervilles" von Sir Arthur Conan Doyle, eine umfangreiche Recherche und Analyse Greulings über das (fragwürdige) Einkolorieren von Schwarzweiß-Filmen mittels KI und einen schönen Text Gröbchens aus dem „Maschinenraum“, der sich mit einem monströsen - im Buchstabensinn titanischen - neuen Kreuzschiff als Monument (geschichts, [um]welt- und selbstvergessener) menschlicher Vermessenheit befasst.
Finanziert wird das Ganze über Crowdfunding (HIER der Link). 75.000 Euro müssen dabei bis Mitte November generiert werden, um 10 Print-Ausgaben im Jahr zu finanzieren. 64% (47.881€) sind Stand Sonntag 21:45 Uhr bereits geschafft. Es sind also (sehr) gut aus.
Während schon einigermaßen realistisch eine Lebensdauer von zumindest einem Jahr abgesehen werden kann, ist der Lange Atem wohl die kritische Variable des Projekts. Der Enthusiasmus, der ihm jetzt (in diesem Ausmaß wohl auch für die Macher selbst etwas überraschend) entgegenschlägt, könnte natürlich irgendwann in den Untiefen von Gewöhnung, Sättigung und ähnlichen Abnützungseffekten versickern. Gegenwärtig steht „Das Feuilleton" ja noch vor dem offiziellen Start, nämlich dem Erscheinen der ersten regulären Nummer, die für Dezember geplant ist.
„Wenn Sie das wollen" appelliert Bernhard Baumgartner in einer Art Leitartikel in der Nullnummer an die Leser, „können wir einmal im Monat als jene neue ,Zeitung für Kultur, Debatte, Medien und Zeitgeschehen‘ erscheinen, die Sie gerade in den Händen halten. Wenn Sie uns schon länger kennen, dann wissen Sie es: Wir können das, wir machen das gut. Und wenn Sie es ermöglichen, dann steht
das Projekt auch wirtschaftlich auf soliden Beinen. Wir halten das neue, monatliche „Feuilleton“ für ein realistisches Ziel – und es wird zumindest einen Teil der Lücke schließen, die eine Regierung ausgerechnet unter Grünem Zutun mutwillig und ohne Ersatz in die Kulturlandschaft geschlagen hat."
Wenn das funktioniert, hat Österreich immerhin ein neues monatliches Kulturmagazin. Und das, wie Baumgartner richtig schreibt, von einem Team, das das kann. Auch nicht ganz nichts.
Bleibt schließlich noch davor zu warnen, „Das Feuilleton" mit der eigentlich überfälligen Printausgabe der „neuen" WZ - es wurden ja von der Propagandisten* in Medienpolitik und Geschäftsführung „mindestens zehn Printausgaben pro Jahr" versprochen, remember? - zu verwechseln.
Eines allerdings haben die „neue" WZ und das von Herzblut befeuerte „Feuilleton" gemeinsam: In beiden fehlt - zumindest als regelmäßig erkennbarer Bestandteil - das Thema Popmusik.
Am Schließen dieser Lücke wird gearbeitet. Von einem weiteren engagierten Team aus dem Dunstkreis der alten „Wiener Zeitung". Mehr ist derzeit noch nicht spruchreif. Wenn es so weit ist, wird es hier stehen.
*weibliche Form mitgemeint