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Es war das Jahr der Morgenpostler Manfred Richter / Pixabay
04 Jan
geschrieben von 

Es war das Jahr der Morgenpostler

2020 wurde der Newsletter zum eigenständigen Medium in Zeitungs- und Zeitschriften-Redaktionen. profil und die Kleine Zeitung haben es österreichweit zur größten Meisterschaft in seinem Einsatz gebracht.

Seit sich das Internet durchgesetzt hat, ist der Newsletter ein unverzichtbares/unvermeidbares Marketinginstrument in der Kommunikationsbranche und insbesondere für Zeitungen und Zeitschriften. Nicht übertrieben häufig allerdings vermittelte er bislang Begeisterung für das zu bewerbende Produkt, geschweige denn Empathie für den Kunden, der dafür entflammen soll. Oft scheint es eher, eine solche Aussendung würde produziert, „weil man das eben so macht“. Die Pandemie, der große, böse Game-Changer, hat auch mit dieser Routine Granada gespielt - so wie sie es mit vielen vermeintlich bewährten Abläufen, sei es in der Arbeitsorganisation (Home Office vs. Bürozwang), Handels- und Kommunikationswegen oder im sozialen Bereich, getan hat: Mit einem Newsletter, der nicht mehr kann als plumpe Eigenwerbung und Kaufappelle zu verklickern, schaut hat man heute alt aus. Für Medien genügt es auch nicht mehr, bloß Inhaltsangaben ihres Programms zu verschicken. Diese Lektion haben einige Redaktionen noch nicht gelernt. Andere dagegen schon recht gut. Zum Beispiel die Wiener Zeitung, die irgendwann im Herbst begann, ihren Headlines und Teasern kurze, kluge Begleittexte leitender Redakteur/innen voranzustellen. Gleich machte der WZ-Newsletter mehr her.

Geschichten erzählen

Die österreichischen Großmeister des Medien-Newsletters sind das Magazin profil und die Kleine Zeitung. Auch schon am längsten geübt in der Kunst, mit dem Newsletter tatsächlich Geschichten zu erzählen, haben sie den elektronischen Kaszettel in den Rang einen eigenständigen Mediums erhoben. Etwas kurioserweise heißt sowohl bei profil wie bei der Kleinen Zeitung der Newsletter „Morgenpost“.
Reden wir zunächst von denen, die sie austragen, sprich: für die Rahmenerzählungen verantwortlich zeichnen. Das sind sowohl bei profil wie bei der Kleinen mehrere, sich abwechselnde Kräfte. Bei der Kleinen Zeitung ist der Post-Dienst übersichtlicher strukturiert - er erfolgt „im Radl“ durch die Mitglieder der Chefredaktion: Antonia Gössinger, die Chefredakteurin der Kärntner Ausgabe, die sich mit Jahresende in die Pension verabschiedet hat, ihr Stellvertreter Adolf Winkler, Thomas Götz, stv. CR und Leiter der Wiener Dependance, der scharfzüngige Grazer „Innenpolitiker“ und Kabarettist Ernst Sittinger, und natürlich Herausgeber und Chefredakteur Hubert Patterer. Bei profil scheint von Herausgeber Christian Rainer bis zur Online-Redakteurin Ines Holzmüller praktisch jedes Redaktionsmitglied irgendwann ran zu dürfen/müssen.

Wie erwähnt, profil und die Kleine Zeitung erzählen in ihren Newslettern Geschichten. Zumeist nicht (unmittelbar) von den großen Entscheidungen, die in obersten Management- oder Regierungseben getroffen werden - dazu sind ja dann die regulären Stories aus Zeitung/Magazin-Online-Angebot da - sondern aus Mikrokosmen: Privaten Lebensräumen, Grätzeln, sozialen Milieus, Wunsch- und Alptraumwelten etc.
Diese Mikrokosmen hatten in diesem vergangenen Jahr verdammt viel zu sagen. Schließlich ist das eine Thema, das uns bewegt hat, bis in ihre hintersten und kleinsten Ritzen hineingedrungen. Da wurde die Gefühlslage von Hinz von Hinz und Kunz zum Leiden des ganzen Landes.

Stilleben von verwaisten Büros

Wir steigen ein in die profil-Morgenpost und gehen am 19.3. - wir sind drei Tage im ersten Lockdown - mit Clemens Neuhold eine Runde Joggen. Das ist ja noch erlaubt, so wie Spazierengehen.
„Als joggender Journalist fühlt man sich dieser Tage ein bisschen wie ein Kriegsberichterstatter. Worauf es beim Joggen und Spazierengehen in diesen surrealen Zeiten ankommt: Social Distancing. Zu Deutsch: Abstandhalten. Empfohlen ist ein Meter, ich bevorzuge die doppelte Distanz (…). In nach wie vor belebteren Gegenden wie dem Wiener Brunnenmarkt wird Joggen so zum wahren Spießrutenlauf, mit Hakenschlagen als Sonderdisziplin“.
In den nächsten Tagen werden Stillleben von verwaisten Büros ge(laut)malt; Bildschirme als missing link zwischen Home-Office-Belegschaft und den paar Versprengten in den Redaktionen geben Einblicke in wohnlichen Idyllen mit Kindern und Haustieren, man lernt, wie Kleine Zeitung-CR Patterer einmal launig zu BranchenBlatt gesagt hat, „die Bücherwände und Schi-Pokale der Kollegen kennen“.
Man erfährt, dass dem Bäcker der IPo-Redakteurin Edith Meinhart auf einen Schlag neun Mitarbeiter abhanden kamen, als Tschechien die Grenze dicht machte. In ländlichen Gebieten regen sich Ressentiments gegen Wiener Ausflügler oder Zweitwohnsitzler, in anderen beklagt man das Ausbleiben der Touristen. Halblustig versucht man sich einen Reim auf die Maskenpflicht in Supermärkten und Öffis zu machen. Man philosophiert über das Wesen von Distanz, konstatiert eine Sehnsucht nach Wald, Wiese und Weite. profil-Kulturchef Stefan Grissemann zitiert als Kronzeugen für „die Superödnis der neuen Heimeligkeit“ einen epochalen Song der deutsch-französischen Band Stereo Total von 1999: „Das ist die Kriiiiiise“.
Leise wird geträumt, dass das Runterfahren des öffentlichen Lebens der Umwelt eine Erholung und der gierigen Psyche des Menschen eine Umsteigehilfe gewähre. Das Erwachen kommt mit den ersten Öffnungsschritten nach dem Lockdown und ist ruppig: Geändert haben sich die Menschen null, die Straßen sind wieder verstopft wie eh und je; der CO2 -Ausstoß ist nicht dramatisch weniger geworden. Nur ein mehr oder weniger unterschwelliges Ungehagen ist dazugekommen.
Die Gastro hat jetzt wieder offen, Veranstaltungen dürfen in sehr beschränktem Rahmen wieder stattfinden, auch die Redaktionen füllen sich wieder ein wenig. Schon im Mai gibt es erste Debatten über eine allfällige Impfpflicht und kommt im profil ein aus Linz stammender Virologe zu Wort, der optimistisch ein Serum in einem Jahr erwartet. Ende des Monats entdeckt profil den homo conspirans.

Die Kleine Zeitung hat´s mit Eisbergen

Ebenfalls Ende Mai wird das Budget präsentiert. Erinnern sie sich noch? Das war das Ding mit den fehlenden sechs Nullen vor dem Komma. Über dieses resümmiert Ernst Sittinger am 29.5 sardonisch, dass in realiter eh Wurscht ist, was drinnen steht: „Es scheint uns (…) so gut zu gehen, dass unsere Volksvertretung (…) die dreitägige Budgetdebatte ruhigen Gewissens zur Selbstdarstellung und Feindbildbestimmung verwenden kann. Und so lauschen wir ergriffen den Klängen der Bordkapelle - mögen sie das Knirschen der Eisberge noch lange übertönen!“
 W7A4210Die Kleine Zeitung hat´s in diesen warmen Tagen mit eisigen Schiffahrts-Metaphern, denn am 31.5. schreibt Hubert Patterer zur Lockerung der Corona-Maßnahmen : „Die Regierung, die im Stundentakt an allen Ecken und Enden die Druckventile aufriss, muss da draußen eine Gefahr gewittert haben, eine dunkle Ahnung, dass sie mit ihrem Dampfer am Eisberg der brüchigen Stimmungslage nicht mehr unbeschadet vorbeischrammen würde.“
En passent erfahren wir von Antonia Gössinger, dass das österreichische Fußball-Cup-Finale zwischen RB Salzburg und Lustenau in 40 (!!!) Länder übertragen wird. Wer sagt da noch, österreichische Fußball-Bewerbe seinen international unbedeutend (auch wenn solchen imposanten Zahlen nur das wahrhaft pandemisch grassierende globale Wett-Fieber zurgrundeliegt)?!
Vorübergehend verliert Corona sogar die Themenführerschaft an den Ibiza-Ausschuss, den Skandal um die Mattersburger Commerzbank, die Rassen-Unruhen in den USA mit dem Präsidentschafts-Wahlkampf als Hintergrundmusik.

Horror pur: Shorty´s Rache wird blutig sein

Irgendwann ab Anfang Juli wird´s aber schon wieder gefährlich. Nicht dass - Gott bewahre! - ein weitblickender Wissenschaftler schon damals erkannt hätte, mit welcher Destruktionskraft das Virus für ein triumphales Comeback im Herbst mobil machte - sondern: Gesundheitsminister Rudolf Anschober hat Kanzler Sebastian Kurz an Beliebtheit überholt!!! Und der Gedanke an einen blutigen Rachefeldzug Shortys versetzt die Journaille in Angst und Schrecken. „Mit Sicherheit tüftelt der Beraterstab des Kanzlers schon an Strategien, um den Chef wieder ins rechte Licht zu rücken“, mutmaßt Rosemarie Schwaiger im profil. „Hoffentlich überstehen wir das ohne einen zweiten Lockdown.“ Zweiter Lockdown?! Wie naiv-optimistisch wir damals waren!
Anfang August entdeckt die profil-Außenpolitik-Redakteurin Siobhán Geets die Kongruenz zwischen Corona-Witzen, flachen „Sinn“-Sprüchen und wieder steigenden Infektionszahlen. „Ich kann die Fotos vom Zweitwohnsitz mit Garten nicht mehr sehen und die guten Ratschläge nicht mehr hören, die Zeit fürs Faszien-Training zu nutzen. Corona wird uns wohl noch lange begleiten. Das wird hart“, prophezeit Geets.
Es IST hart. Keiner braucht´s uns mehr zu erzählen.
goessinger rund Kopie„Jahreswechsel in Besorgnis“, ist die letzte Morgenpost der Kleinen Zeitung von 2020 betitelt. Es ist zugleich auch die Letzte Post von Antonia Gössinger, die sich aus dem aktiven Berufsleben zurückzieht. Hierarchisch wird sie von Wolfgang Fercher, postalisch aber von Elisabeth Zankel beerbt.