Unser persönlicher Coming-of-Age-Roman Edition Kürbis
04 Okt
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Unser persönlicher Coming-of-Age-Roman

Den Stellenwert von Popmusik in individuellen Biographien und für gesellschaftliche Strömungen untersucht die Anthologie „Noch mehr Lärm!“ mit Beiträgen namhafter Autor/innen.

„Musik ist unser persönlicher Coming-of-Age-Roman“, schreibt der 1984 geborene Oberösterreicher Andreas Rauschal, Musikredakteur der Wiener Zeitung, in einem hervorragenden Essay über die musikalischen Bande, die in einem Menschenleben biographische Eckpfeiler verknüpfen. „Endlosschleifen und Fieberträume“ betitelt, ist dieser Essay Teil eines „Pop-Lesebuchs“, das der Musik-, Literatur- und Fußball-Fachmann und Journalist Heimo Mürzl gemeinsam mit dem Autor, Musiker und Verleger Wolfgang Pollanz in dessen Edition Kürbis herausgegeben hat und in dem sich um die 25 Autor/innen dem Phänomen Pop zu nähern versuchen. 

Noch mehr Lärm!“, so sein Titel, ist der Nachfolger der Anthologie „Lauter Lärm“, die 1994 in der Edition Kürbis herausgekommen war. Damals ging es weitgehend um das Aufsaugen popmusikalischer Dissidenz in der omnipräsenten kapitalistischen Verwertungslogik. Ein Vierteljahrhundert präsentiert sich Pop als ein von Streamingdiensten und Algorithmen konstituiertes Allerlei, in dem sich jeder nach Belieben bedienen kann, das aber keine großen Zeichen mehr generiert.

Als Begleiter zum persönlichen Lebensentwurf, biographischer Spiegel, ja sogar als Treibstoff für Moden und gesellschaftliche Strömungen hat Pop ziemlich ausgedient. BranchenBlatt-Redakteur Bruno Jaschke zeichnet diese Entwicklung in seinem Beitrag, dessen Abdruck in der Wiener Zeitung hier eingesehen werden kann, nach. Der Leiter des samstäglichen „extra“-Magazins der Wiener Zeitung, Gerald Schmickl, lüftet wiederum den Mythenschleier, der mit nostalgischer Verklärung über die Popmusik gezogen wird und rückt der „materialistischen Dichotomie von Pop und Industrie“ mit der treffenden Feststellung zuleibe, Pop sei „in gewisser Weise sogar die prototypische Kultur des Kapitalismus“.
Co-Herausgeber Wolfgang Pollanz untersucht am widersprüchlichen Wesen John Lennons, wie viel Arschloch ein Pop-Star sein darf (oder eben nicht); Günther „Bus“ Schweiger schildert, wie man dazu kommt, die als uncool erachtete und von Trendies links liegen gelassene Musik von BOFs („Boring Old Farts“) zu mögen. Der Freddie-Mercury-Impersonator Austrofred erzählt der staunenden Leserschaft, was sie schon immer über „Das Groupie im abendländischen Raum“ wissen wollte.
Die meisten Texte stellen indes den Konnex zwischen Popmusik und der eigenen Jugend her. Die Schriftstellerin Irene Diwiak erinnert sich an ihre Tokio-Hotel-Fan-Phase. Mieze Medusa beschreibt jenen Sonntagabend im Frühjahr 1986, der sie vom Kuschel-Pop zum Hiphop umgeleitet und mittelbar zu einer Pionierin der österreichischen Poetry-Slam-Szene gemacht hat: Es war der Abend, an dem Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Die Journalistin Nina Müller zeigt im Rückblick auf, wie männlich zentriert das Genre Pop (und seine journalistische Reflexion) bis weit in die ersten Jahre dieses Milleniums war und wie viele Defizite an Diversität es nach wie vor wettzumachen gilt. Das wäre quasi ein Auftrag für die nächste Anthologie in 25 Jahren. 

Noch mehr Lärm! Ein Pop-Lesebuch, herausgegeben von Heimo Mürzl und Wolfgang Pollanz. Edition Kürbis, Wies 2019, 143 Seiten.