Lebensbegleiter Tamara Starl-Latour
05 Feb
geschrieben von 

Lebensbegleiter

Vor einer Woche ist Tom Verlaine im Alter von 73 Jahren nach kurzer Krankheit, wie es hieß, gestorben. Nach einer Welle von teilweise etwas nichtssagenden Nachrufen hier eine Erinnerung an eine unvergeßliche persönliche Begegnung.


„Normalerweise stehe ich nicht so früh auf“, waren seine ersten Worte. Und Zeilen wie „it was noon at midnight“ oder „all afternoon gazing at the moon” machten gleich einmal mehr Sinn.

Es war Februar 1993, es hatte ungefähr -15 Grad C Lufttemperaturvorneund ich war für 4 Uhr Nachmittag mit Tom Verlaine in einem Café an der 8th Avenue verabredet. Wie der Zufall oder vielmehr die Tugend der Pünktlichkeit es wollte, trafen wir uns genau vor dem Lokal.
Endlich wieder einmal in New York, hatte ich mir stur in den Kopf gesetzt, Tom Verlaine zu interviewen. Dass seine legendäre Band Television sich damals überraschend wiedervereinigt und ein drittes Album eingespielt hatte (das naturgemäß gut war, sich aber nicht mit den zwei originalen Television-LPs und auch nicht mit Verlaines besten Solo-Alben messen konnte), mochte für das Zustandekommen des Interviews hilfreich gewesen sein, spielte für mich aber nur eine marginale Rolle.

Es war vielmehr ein ganzes Stück Lebensgeschichte, die an diesem Mann hing. Die unheimlichen Wahnbilder von „Venus“ waren in den späten 70ern ein Erweckungserlebnis. „Dreamtime“ begleitete mich durch den Winter 81/82, weshalb die Platte – wahrscheinlich mit nur geringer faktischer Berechtigung – für mich auf ewig mit Nebel, Grau, ungemütlichen Temperaturen und distinktivem Außenseitertum konnotiert ist. Ich durchlebte einen großartigen Sommer 82 mit den düsteren „Words From The Front“, ließ mich später noch gerne von „Cover“ bezaubern und von „Flash Light“ beeindrucken. Selbst „The Wonder“ hatte noch seine Momente, allen voran im bitteren „Pillow“.

Die Art der Interviewanbahnung sollte bitte niemand zum Vorbild nehmen. Ich war einfach ins Büro von Verlaines Manager John Telfer, der seine Adresse am Broadway Nähe Central Park auf etlichen Plattencovern hinterlassen hatte, hineingeplatzt. Der starrte mich an wie eine Geistererscheinung und fragte: „Machen Sie das immer so?“ Ich verkniff mir mit einiger Mühe eine Bemerkung von der Art „Ja, wenn´s funktioniert“ und argumentierte nicht unlogisch, dass ich auf offiziellem Weg über die Plattenfirma kaum zu einem Gespräch mit TV kommen würde. Dann betonte ich auch noch - ich wusste, das würde reingehen, es war aber auch ziemlich wahr -, überhaupt kein Interesse an der Vergangenheit („Wie war das damals im CBGBs?" „Wie war das mit Patti Smith?") zu haben.
Ein paar Tage später erhielten meine Frau und ich einen Anruf in unserem verrückten und abgefuckten, aber auch lustigen und, wie wir von Tom selbst erfuhren, äußerst angesagten Hotel 17 in der 17th Street und vereinbarten das Treffen in besagter Lokalität an der 8th Ave.
24716 1384989178634 4672346 nAls Appendix zum Frühstück - Omelett ohne Zwiebel – konsumierte Verlaine in den nächsten zwei Stunden neben viel Kaffee mindestens zehn Zigaretten. Rauchen sei, versicherte er, sein einziges nennenswertes Laster: Drogen waren für ihn schon lange kein Thema mehr; dem Alkohol war er nicht völlig abgeneigt, aber alles andere als verfallen.

24716 1384989218635 1603070 nDie Dauer des Gesprächs verrät, wie es - nach kleineren anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten - verlaufen ist. Dabei stand Tom Verlaine, einer der intelligentesten Rock-Musiker, die mir je begegnet sind, im Ruf, ein schwieriger Gesprächspartner zu sein. Konflikte mit der Journaille dürften indes vor allem durch Inkompetenz ausgelöst worden sein. Möglich gewiss auch, dass Verlaines Naturell - ähnlich seiner Musik - etwas latent Ungnädiges innewohnte. Einem Schreiberling, der offensichtlich seinen Werdegang überhaupt nicht kannte, empfahl er, die von der Plattenfirma verteilte Biographie zu lesen. „Er rief daraufhin die Plattenfirma an und sagte, ,dieser Bastard hat keine meiner Fragen beantwortet!‘ Nun stellen sich Plattenfirmen in so einem Fall immer auf die Seite des Journalisten. Und ein Jahr später hörst du irgendeinen Sprecher der Company sagen, ,Verlaine ist wirklich schwierig zu interviewen!' Statt dass er sagt, die Zeitungen sollten statt solchen Idioten besser geeignete Leute schicken. Zu vergessen sind auch Magazine, wo der Chefredakteur jemanden schickt, der Bass in einer Punk-Band spielt und überhaupt kein Interesse an journalistischer Arbeit hat."

Ende 1949 als Thomas Miller in Wilmington, Delaware geboten und an der Grenze von Norden und Süden der USA in einer, wie er sagte, vorstädtischen und von Rednecks dominierten Gegend aufgewachsen, kam Verlaine Mitte der 60er Jahre nach New York. Sein Interesse für Literatur manifestierte sich zunächst in der Wahl seines Künstlernamens, den er wie Robert Zimmerman von einem Dichter, in seinem Fall dem symbolistischen französischen Lyriker Paul Verlaine (1844-1896) bezog. Um 1973 herum hatte er einmal einen kleinen Gedichtband gemacht, von dem er zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits jede Spur verloren hatte. Später verwies eine Kurzgeschichte auf der Innenhülle seines Albums „Cover" plus einer Ankündigung eines „work in progress" mit dem Titel „41 Monologues" auf nach wie vor existente literarische Ambitionen; vollendet hat er das angekündigte Projekt gleichwohl nie. Was von seinem verbalen Geschick bleibt, sind Songtexte mit zündenden, bisweilen fast knalligen Metaphern, die als Ganzes meistens nicht eindeutig zu entschlüsseln sind. Auf dem monolitischen Television-Werk „Marquee Moon" von 1977, mit dem sich Verlaine auf der einen Seite unkündbar im Pantheon der Rockmusik eingemietet hat, das andererseits insofern zur Belastung wurde, als alle nachfolgenden Arbeiten Verlaines daran gemessen oder dazu in Beziehung gesetzt wurden, fordert er oft kühn die Gesetze der Physik heraus: „Ich wachte auf und es war gestern". Ein „boat made out of ocean" wird gewünscht; ein Berg soll mit einem Sprung erobert werden. Dunkelheit verdoppelt sich, Blitze entzünden sich an sich selbst. Dass „die Welt so dünn zwischen meinen Knochen und meiner Haut" war, könnte sich natürlich einfach auf die beinahe ungesund schlanke, wenn auch gut 1,90 m große Gestalt des Autors beziehen.
24716 1384990578669 7675160 nAuf späteren Alben treten oft Menschen in Dialog zueinander - aber nur selten offenbart sich dabei ein vernünftiger Sinn. Meist erwecken seine Figuren den Eindruck, neben ihren Schuhen zu stehen. „Sie scheinen in ihrer eigenen Welt zu leben, die für sie Sinn macht, nicht aber für Andere. Würde man sie besser kennenlernen, würde es nicht so irrational anmuten. So ist es schwer, nachzuvollziehen, was sie sagen, tun, durchmachen. Es ist manchmal Ironie dabei, aber ich betrachte sie mit Zuneigung. Keineswegs mache ich mich über sie lustig."

24716 1384989098632 6129150 nVon der musikalischen Prägung her gab es zunächst keine Direkt-Verbindung zur Rock-Musik. Tom hatte als Kind Klavier gelernt, später Saxofon gespielt und in den 50ern fast nur Jazz gehört. „Der einzige Rock&Roll, den ich mochte, waren Novelty Songs* wie ,Flying Saucers Rock'n'Roll‘, ,The Mummy‘, „The Spiders From Hell" - diese seltsamen, lustigen Songs. Aber auch in den 60 Jahren erwischten mich erst die Kinks, weil die eine so heftige Rhythmusgitarre hatten, und die Yardbirds, deren Live-Platte ähnlich wild war wie es einige Jazz-Platten waren. Aber eigentlich spielte für mich Gitarrenmusik nie eine besondere Rolle - Klavier lernen und Saxophon spielen hat mich viel mehr geprägt. Das Saxophon ist ein viel ausdrucksstärkeres Instrument als die Gitarre. Ich hab´s hauptsächlich deswegen aufgegeben, weil ich nicht zur selben Zeit singen und Sax spielen konnte."**
Es ist also eine gewisse Ironie der Geschichte, dass der „Gitarrengott" der Generation nach Hendrix eigentlich nur aus pragmatischen Gründen überhaupt in die Saiten gegriffen hatte. Mit seinem Schulfreund Richard Hell (vulgo Meyers) gründete er Anfang der 70er Jahre eine Band, die sich zuerst Neon Boys und später Television nannte. Bald entstanden und wuchsen Spannungen zwischen Verlaine und dem exaltierten Hell, der immerhin die Punk-Ästhetik und zunächst auch das Repertoire von Television wesentlich mitkreiert hatte. Mitte der 70erJahre eliminierte ihn Verlaine aus der Band, was Hell naturgemäß nicht sehr gut aufnahm. Aber auch Verlaine hatte seine Gründe für Ressentiments: „Gelegentlich renne ich in jemanden, der mit Richard Platten gemacht hat. Die rollen alle mit den Augen und sagen, das machen sie nie wieder", lachte er. „Er ist ein guter Schreiber - ich lese immer gerne, was er geschrieben hat. Aber er hat über die Jahre enorm viele üble Dinge über mich gesagt, daher rede ich im allgemeinen nicht über ihn. Letztes Jahr habe auch ich böse Dinge über ihn gesagt, nur damit er mal erfährt, wie sich das anfühlt (lachte). Es wurde gedruckt und kam dumm rüber. Und viel mehr ist darüber nicht zu sagen."
Ohne die „Störung" durch Hell entwickelten Television ihren rhythmisch strengen, eisig-eleganten, von Jazz-beeinflusstem Schlagzeug und versatilem Bass getragenen Gitarrenstil, der ohne die zu Tode gespielten Klischees von Blues-, Heavy- und Hardrock auszukommen wusste. Diese Musik wirkte sehr urban, wie vom Rhythmus von U-Bahnen, Fließbändern und Großstadtroar angetrieben. New York war schon vorher ein guter Boden für expressive Gitarren-Musik gewesen, man denke an Dylans Rock-Phase Mitte der 60er, natürlich an Velvet Underground und an Patti Smith, auf deren früher Single „Hey Joe" Verlaine gespielt und auf deren Debütalbum „Horses" er den Song „Break It Up" mitgeschrieben und mit einer fiebrigen Gitarre befeuert hatte. Television beschnittsetzten neue Maßstäbe, an denen sich später ihrerseits wegweisende Bands wie Sonic Youth orientierten. Zwar wandte Verlaine im Gespräch vorsichtig ein, dass sich Sonic Youth vielleicht schon als Antithese zu immerhin noch songorientierten Bands wie Television verstanden haben mochten, aber die tiefen Respektbezeugungen der SY-Mitglieder auf Twitter lassen keine Zweifel an Verlaines inspirierendem Einfluss.
Verschiedentlich ist die Musik von Television und des Solisten Verlaine als Kann-nur-in-New-York-passieren interpretiert worden - ein Mythos, den z.B. Lou Reed sehr bereitwillig für sich aufgerufen hat. Verlaine hingegen verwehrte sich recht nachdrücklich gegen eine solche Deutung, hatte er doch drei Jahre (84 - 87) in London gelebt, ein paar Wochen in Paris und auch einige Zeit in Schweden verbracht. Dabei änderte sich fallweise übrigens auch seine nocturne Arbeitsroutine. In New York stand Verlaine, eingestandenermaßen kein Familienmensch, üblicherweise am späten Nachmittag auf, kam gegen vier Uhr früh ordentlich auf Betriebstemperatur und fiel gegen sieben Uhr ins Bett. „Als ich aber in Europa lebte, bin ich meist gegen elf Uhr aufgestanden, habe oft den ganzen Nachmittag gearbeitet und ging um ein oder zwei Uhr nachts schlafen. Es war eine neue, eine recht frische Erfahrung für mich. Vielleicht schreibt man dann etwas leichtmütigere Songs - ich weiß es nicht."
Immerhin entstand hier ein beträchtlicher Teil des Albums „Cover" von 1984, der ersten klar als nicht „depressiv" erkennbaren Verlaine-LP. Einem Album auch, dem der Künstler selbst einen hohen Stellenwert in seinem Schaffen einräumte, während Teile der Kritik etwas reserviert reagierten. Genau das Gleiche traf auf sein Album „The Wonder" von 1990 zu. Diese beiden Platten haben übrigens auch gemeinsam, dass auf ihnen die Gitarren deutlich zurückgenommener sind als auf anderen Verlaine-Werken.
„The Wonder" war Verlaines erfolgreichstem und von den Rezensenten bejubelten Solo-Album „Flash Light" von 1987 gefolgt. Trotz seiner vermeintlich günstigen Vorgeschichte hatte Verlaine den Eindruck, die Plattenfirma Phonogram rühre keinen Finger für dessen Promotion. Eine skurrile Auseinandersetzung Verlaines mit seinem - wie sich herausstellte: mental kranken - A&R***-Mann hatte zur Folge, dass es, bereits Ende 1987 aufgenommen, zweieinhalb Jahre auf Eis lag. „Der A&R-Mann sagte mir, ,ich werde diese Platte nicht rausbringen‘", erzählte Verlaine mit witziger stimmlicher Nachahmung seines „Künstlerbetreuers". „Dann rief er mich an und zählte auf, ,dieser Song hier geht, dieser geht, aber der geht überhaupt nicht, der auch auch nicht.' Ich sagte ihm, ,gut, ich habe noch drei Songs, ich werde sie aufnehmen und schicken.‘ Er sagte, ,Gut!‘ Danach habe ich nichts mehr gehört."
So war er überrascht, als er einen Anruf von Phonogramm erhielt und gefragt wurde, ob er nicht für ein paar Pressetermine nach Europa kommen wollte. „Ich fragte, ,Wofür?‘, und sie sagten, ,Nun, deine Platte kommt nächsten Monat raus‘. Ich sagte, ,Ich habe sie nie gehört!‘ Die Pressefrau fragte ungläubig, ,Was, du hast deine eigene Platte nicht gehört?‘ Ich sagte ,Nein, ich habe sie dem A&R-Typen vor einem Jahr abgeliefert und seither nichts gehört'. Sie war furchtbar peinlich berührt und schrie den A&R-Mann an: ,Dir ist bewusst, dass der Mann hier ein Jahr herumgesessen ist und du hast es nicht der Mühe wert gefunden, ihm ein Tape zu schicken?' Da sagte er, ,Das ist nicht wahr, ich habe ihn angerufen, aber er hat sich geweigert, mit mir zu reden.' Das war die Art von Lügen, die dieser Typ immer wieder verbreitet hat. Die Pressefrau sandte mir sofort ein Tape. Aber dann verschoben sie auch noch die Veröffentlichung. Ich war richtig erstaunt, dass es letztlich doch herauskam. Ich bin allerdings unglücklich mit dem Mix. Ich würde ihn ändern, wenn ich je die Gelegenheit dazu bekäme."

Tom Verlaine war kein prononciert politischer Songwriter. Man kann in einzelne Songs, etwa „Kingdom Come", das David Bowie gecovert und dabei die einsame Eindringlichkeit des Originals um Längen verfehlt hat, „Politisches" hineininterpretieren, aber sehr deutlich stand es nicht auf Verlaines Agenda, in diesem Sinn Propaganda zu betreiben. Das hieß allerdings nicht, dass er das politische Geschehen in den USA teilnahmslos verfolgte. „Die Jahre von Reagan und Bush (Sen., Anm.) waren ein Horror. Ich lebte in Europa und hatte keine Ahnung, was sich da entwickelte. Da war ein Plattenladen, wo ich Platten um 99 Cent eingekauft habe; tausende Platten mit keiner bestimmten Richtung - Beethoven fand sich da neben George Jones. Als ich zurückkam, war statt dem Plattengeschäft hier eine chice Bar. Davor Obdachlose, von denen man immer mehr auf der Straße sah. Ich hatte da noch keine Ahnung, dass das alles mit Reagan zu tun hatte. Ich habe Wochen damit verbracht, die Auswirkungen von Reagan zu studieren. Es war richtig krank, wie viele Leute den Typen gewählt haben, wie sie diesem vermeintlich großväterlichen Schwachkopf verfallen waren. Es ist krank, wie ungebildet Amerikaner sind und auf alles hereinfallen, was ihnen im Fernsehen gesagt wird. Wie sich da Leute in dummen Shows produzieren, die in Europa höchstens in einer Dokumentation über Psychos vorkämen."
Nun ja, das war wie gesagt 1993. Nicht nur Tom Verlaine konnte sich nicht vorstellen, dass noch viel üblere Typen als Reagan und Bush sen. ins Weiße Haus ziehen würden und sich Europa überschlagen würde, um nur ja schnell jede Blödheit aus den USA nachzuäffen. Zukunft, das lag damals außerhalb des Vorstellbaren. Erst recht der Begriff der Endlichkeit. „Time is a crushing thing", wie Tom Verlaine in „Pillow" gesungen hat.

 

*Stücke mit Nonsens-Themen und meist auch entsprechender musikalischer Form
**Patti Smith begründet in ihrem vielzitierten und -gerühmten Nachruf im New Yorker Verlaines Rückzug vom Saxophon damit, dass er sich beim Hockey-Spielen einen Zahn ausgeschlagen hatte
***Artist&Repertoire-Manager entscheiden, welche Künstler unter Vertrag genommen werden und sind für ihre Betreuung zuständig